Texte zum Hörverstehen: Hörtext 3 "Emotionale Intelligenz"

Länge: 5 Minuten 18 Sekunden (620 Wörter)
Quelle: „Vernünftiges Denken ist ohne Emotionen nicht möglich”,            
Psychologie heute, 05/2001, S.14-15

Interviewer:

In unserer heutigen Wissenschaftssendung berichten wir über eine Studie zur emotionalen Intelligenz, die von einer Forschergruppe der Universität Kassel durchgeführt wird. Frau Dr. Döring-Seipel, Sie gehören zu dieser Forschergruppe. Was sind denn typische Merkmale emotionaler Intelligenz?

Dr. Döring-Seipel:

Emotional intelligente Menschen können Gefühle und Denken aufeinander beziehen. Das heißt, sie können im Einzelnen ihre eigenen Gefühle differenziert wahrnehmen und ausdrücken und auf dieser Grundlage ihr Denken und ihre Entscheidungen unterstützen. Sie wissen im Allgemeinen sehr viel über emotionale Situationen und Prozesse und können dadurch ihre eigenen Emotionen steuern.

Interviewer:

Das klingt noch sehr allgemein. Gibt es denn da Unterschiede bei Frauen und Männern?

Dr. Döring-Seipel:

Wir sind mit der Forschung zwar noch am Anfang, haben aber schon herausgefunden, dass Frauen und Männer sich in ihrem Umgang mit negativen Gefühlen nicht unterscheiden und in der Regel ihre Emotionen auch klar wahrnehmen. Ein eindeutiger Unterschied besteht jedoch in der Aufmerksamkeit, mit der Frauen und Männer ihre Emotionen angehen. Frauen verstehen sich als wesentlich aufmerksamer, was ihre Gefühle betrifft, als Männer und sie haben auch eine andere Art, sich selbst darzustellen.

Interviewer:

Ah ja. Wie sieht es aber nun aus, wenn wir andere Menschen wahrnehmen, z. B. durch ihren Gesichtsausdruck? Spielt emotionale Intelligenz dabei auch eine Rolle?

Dr. Döring-Seipel:

Ja. Wir sind davon ausgegangen, dass emotional intelligente Menschen stärker auf Gefühle in sozialen Situationen achten und diese auch richtig interpretieren. Also legten wir in einem Versuch jeder Person einer Probandengruppe 28 Fotos von Gesichtern vor, die Grundgefühle, wie Freude, Angst, Ekel, Überraschung, Wut, Trauer und Verachtung in 4 verschiedenen Varianten ausdrückten. Dabei stellte sich heraus, dass die Personen, die vorher in einem Fragebogen angegeben hatten, Emotionen stärker zu beachten, auch die auf den Fotos ausgedrückten Gefühle besser identifizieren konnten. Die anderen aber, die angegeben hatten, dass sie Gefühle weniger beachten, konnten auch die Gefühle auf den Fotos nicht so gut wiedererkennen.

Interviewer:

Emotional intelligente Menschen können also Gefühle und ihre Bedeutung besser wahrnehmen. Können sie auch Probleme besser lösen?

Dr. Döring-Seipel:

Ja, teilweise schon. Komplexe Probleme z. B. sind meistens nicht vollständig überschaubar und analysierbar, denn es gibt nur unvollständige Informationen, und auf deren Grundlage muss man Schwerpunkte setzen. Wir haben z. B. mit einem komplexen computersimulierten Problem gearbeitet, von dem man ja annehmen könnte, dass es sich um eine rein rationale Aufgabe handelt. Interessanterweise haben die Personen mit einer klaren Emotionswahrnehmung auch die besseren Leistungen bei der Bearbeitung dieser Aufgabe gezeigt. Emotionen können die Lösung von komplexen Problemen also durchaus unterstützen. Sie können uns andeuten, ob bestimmte Alternativen sinnvoll oder vielleicht sogar gefährlich sein können. Sie geben uns daher bei komplexen Problemen eine ungefähre Orientierung, bei der wir unseren analytischen Verstand gezielter einsetzen können.Interviewer:Ist das im auch im Alltagsleben relevant?

Dr. Döring-Seipel:

Ja. Stellen Sie sich vor, Sie haben zu wählen zwischen verschiedenen Stellenangeboten, die unterschiedlichste Auswirkungen auf Familie, Karriere und Wohnort haben. In dieser Lage können Sie nur schwer alle Vorteile und Nachteile jedes Angebotes beurteilen. Emotionen können helfen, durch gefühlsmäßige Zustimmung oder Ablehnung jene Angebote schon mal vorzusortieren und so dazu beitragen, in einem kürzeren Zeitraum eine sinnvolle Entscheidung zu treffen.

Interviewer:

Es wird aber oft behauptet, dass Emotionen das klare und objektive Denken behindern.

Dr. Döring-Seipel:

Das können sie in der Tat, z. B. wenn wir vor Wut blind sind oder vor Angst paralysiert. Auf der anderen Seite haben Studien von Hirnforschern gezeigt, dass vernünftiges Denken nicht möglich ist, wenn Gefühle sich nicht entwickeln und keinen Ausdruck finden.

Interviewer:

Wenn emotional intelligentes Verhalten so wichtig ist, muss man doch fragen, ob es auch erlernt werden kann.

Dr. Döring-Seipel:

Das können wir bislang nur vermuten. Emotionale Intelligenz ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das im Laufe einer Entwicklung erworben wird. Entscheidend dafür sind Erfahrungen aus der Kindheit und der Jugend, und zwar der Art, wie im Elternhaus mit Emotionen umgegangen wurde. Wir vermuten aber, dass es auch bei Erwachsenen noch verändert und verbessert werden kann.